
Artikel aus „Neue Züricher Zeitung“ vom 6.7.2018, Quelle: https://www.nzz.ch/gesellschaft/die-kinder-von-5010
Die Kinder von 5010 – Teil 1: Julia trifft eine Entscheidung
Als Julia vor mehr als 18 Jahren beschloss, allein ein Kind zu bekommen, ahnte sie nicht, dass sie Teil einer Grossfamilie werden würde, die unüberschaubar wächst. Ihre Tochter Amelia hat mehr als 50 Halbgeschwister auf drei Kontinenten. Sie alle haben eines gemeinsam: Ihr Vater ist Samenspender 5010. Weiss der von seinem Glück? Ein Familienporträt in fünf Teilen.Anja Jardine6.7.2018, 05:30 Uhr
Sie war 32, als sie zu fürchten begann, es vielleicht allein tun zu müssen: ein Kind bekommen. Natürlich sei sie immer davon ausgegangen, eines Tages die Liebe fürs Leben zu finden und zu heiraten, sagt Julia. Doch wo blieb dieser Mann? Alles andere lief bestens: Sie hatte einen guten Job im Marketing einer Maschinenbaufirma in New York, besass ein kleines Appartement in der 55th Street, zehn Blocks vom Central Park entfernt. Sie reiste viel, spielte Oboe, hatte einen grossen Freundeskreis, immer volles Programm. «Das Leben war schön», sagt Julia. «Aber ich wusste, dass ich Mutter werden wollte.» Das sei einfach schon immer klar gewesen. Und als ihr Bruder bei einem Autounfall verunglückte, bekam der Wunsch eine neue Dringlichkeit.
Ihre letzte ernsthafte Beziehung war zerbrochen, als sie Ende zwanzig war. Und was danach gekommen sei, sagt Julia, hielt nie lang. «Bei jedem denkst du, der könnte es sein. Dann geht es doch wieder auseinander. Du brauchst Monate, um darüber hinwegzukommen. So ziehen Jahre ins Land.» Und einem weitverbreiteten Irrtum wollte sie nicht unterliegen: «Viele Frauen glauben, sie hätten Zeit bis 40», sagt Julia, «aber wir werden mit dem kompletten Datensatz an Eizellen geboren, und die altern gnadenlos. Mit 35 geht die Fruchtbarkeit im Sturzflug runter.»
Rasterfahndung
Plan A lautete also, unverzüglich doch noch den Mann fürs Leben zu finden. Sollte der sich allerdings bis zu ihrem 35. Lebensjahr nicht materialisiert haben, würde Plan B in Kraft treten: Sie würde ohne Mann ein Kind bekommen. Noch während sie in Rasterfahndung nach dem potenziellen Vater ihrer Kinder suchte und ihre Dates noch vor dem ersten Kuss entsprechend examinierte, sicherte sie die Rückfallebene. Sie absolvierte neben der Arbeit ein Aufbaustudium, um ihre Verdienstmöglichkeiten zu verbessern; «als alleinerziehende Mutter in New York brauchst du Geld». Und sie recherchierte Vor- und Nachteile aller Möglichkeiten, allein an ein Kind zu kommen: Adoption und Samenspende.
In dieser Zeit fiel ihr das Buch «Single Mothers by Choice» von Jane Mattes in die Hände. Unter dem Kürzel SMC hatte Mattes 1981 eine Organisation gegründet, die «alleinerziehende Mütter aus freiem Entschluss» Unterstützung anbietet. Laut Website haben im Laufe der Jahrzehnte mehr als 30 000 Frauen in den USA und in Europa – auch in der Schweiz – das Angebot genutzt, wobei sich ein nicht quantifizierter Anteil gegen diesen Weg entscheidet. SMC richtet sich an Frauen, die bereits zum Zeitpunkt der Empfängnis willens sind oder waren, ihr Kind allein grosszuziehen. Also keine Scheidungs-, Trennungs- oder Aus-Versehen-Alleinerziehenden.Die Kinder von 5010Als Julia vor mehr als 18 Jahren beschloss, allein ein Kind zu bekommen, ahnte sie nicht, dass sie Teil einer Grossfamilie werden würde, die sich – unüberschaubar – über Kontinente, Konfessionen und Kulturen ausbreitete. Ihre Tochter Amelia hat mehr als fünfzig Halbgeschwister. Darunter der Sohn einer alleinerziehenden Mutter in ihrer Nachbarschaft in New Jersey, die Zwillinge eines lesbischen Paares in Colorado, die drei Kinder einer orthodoxen Jüdin in Jerusalem. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Sie alle haben eines gemeinsam: Ihr Vater ist Samenspender 5010 des New England Cryogenic Center. Weiss der von seinem Glück? 16 Jahre hat die NZZ die Familie begleitet – ein Porträt in fünf Teilen.Anja Jardine 19.7.2018, 15:55
Eine Befruchtung durch termingerechte One-Night-Stands hatte Julia ohnehin nie in Betracht gezogen – eine durchaus verbreitete und in Kinderwunsch-Foren diskutierte Variante. Im Übrigen so alt wie die Menschheit und auch in Königshäusern nicht unüblich, wenn der Thronfolger allzu lange auf sich warten liess. Genauso wenig war Julia für überstürztes Kinderkriegen in akuter Verliebtheit, von der man nicht wissen konnte, ob sie nicht erlosch wie ein Strohfeuer. «Das war ja genau das, was ich auf keinen Fall wollte», sagt Julia: ein Kind aus einer halbgaren, halbherzigen Beziehung, die sich womöglich als ungut herausstellen würde, gar destruktiv, und ihr Leben auf alle Zeit mit dem falschen Mann verknüpfte. «Samenspende ist eine saubere Angelegenheit», sagt Julia, «die Spielregeln sind klar, das Kind ist von Herzen gewollt und hat gute Chancen auf ein friedliches Zuhause.»
Jane Mattes schreibt in ihrem Buch, man müsse um die Familie, die man nicht haben werde, getrauert haben, bevor man sich zum Alleingang aufmache. «Niemand wird dir nach der Geburt eine Kette um den Hals legen. Es wird keine Sonntagmorgen zu dritt im Bett geben.» Erst wenn man das abgehakt habe, sagt Julia, könne man sich auf das Leben freuen, das einem bevorstehe. Julia ist gut im Abhaken. «Ich habe mich vor allem mit logistischen Fragen beschäftigt: Wie bringe ich den Müll runter? Wie lade ich das Auto aus? Bringe ich zuerst das Kind nach oben oder die Lebensmittel?» Diese Probleme schienen lösbar.
Als Mr. Right sich auch in ihrem 35. Jahr nicht hatte blicken lassen, stellte Julia die Suche nach ihm ein. Jetzt sollte ihr niemand mehr dazwischenfunken. Julia wurde Mitglied bei den Single Mothers by Choice und besuchte die Treffen der Gruppe in ihrem Quartier. «Du denkst, mein Gott, da sitzen die Übriggebliebenen, frustriert und verbittert, und stellst fest: Das sind ja ganz normale Frauen, darunter sehr attraktive.» Manche grübelten noch, andere versuchten bereits, schwanger zu werden.
Tragen Sie jockeyartige Unterhosen?
Julia entschied sich für eine kleine Samenbank – in der Hoffnung, einen Spender zu finden, dessen Samen noch nicht flächendeckend gestreut war. Zudem wollte sie unbedingt einen Ja-Spender, also einen, der eingewilligt hatte, dass die aus seinem Samen hervorgegangenen Kinder im Alter von 18 Jahren mit ihm Kontakt aufnehmen dürfen. So genannte Identity-Release-Donor versprechen kein Treffen, sondern nur die schriftliche oder telefonische Kontaktaufnahme. Es ist eine Art Akteneinsicht: ein Name, ein Gesicht und ein paar Informationen. Aber die sind essenziell.
Studien über Adoptivkinder haben gezeigt, wie wichtig die Kenntnis des eigenen Ursprungs für die psychosoziale Entwicklung eines Menschen ist. In vielen Ländern ist die anonyme Samenspende aus diesem Grund bereits verboten, seit 2001 auch in der Schweiz. In den USA allerdings ist sie noch heute erlaubt. Das Land hat in der Reproduktionsmedizin die vermutlich liberalste Gesetzgebung der Welt.

Julias Wunsch nach einem Ja-Spender reduzierte die Zahl der Kandidaten ihrer Samenbank von mehreren hundert auf genau fünf. Die Website gab nur dürftig Auskunft über diese Männer, aber es war möglich, für zehn Dollar pro Spender einen fünfzehnseitigen Fragebogen zu kaufen, in dem dieser im Multiple-Choice-Verfahren über sich Auskunft gegeben hatte: ob Rechts- oder Linkshänder, Brillenträger ja oder nein, Körperbau kräftig, zierlich oder normal, Erbkrankheiten in der Familie, Ausbildung, Hobbys, Aussehen («Freunde betrachten mein Aussehen als a.) durchschnittlich, b.) gut, c.) sehr gut.»). Dem folgten ein paar handschriftliche Zeilen zu eigenen Lebensplänen oder zum Charakter.
Julia bestellte die Profile aller fünf Kandidaten und nahm ihre Eltern in die Jury auf. Die waren froh über Julias Plan, ein Kind zu bekommen. Seit dem Tod ihres Sohnes war sie ihre einzige Hoffnung auf Enkel. Und lieber so als gar nicht. Zumal es sie nicht überraschte, welchen Weg ihre Tochter einschlug. Schon als kleines Mädchen, sagt ihr Vater, habe sie bei jeder Gelegenheit gesagt: «I do it myself.» Er interessiert sich sehr für Genealogie und hat die Geschichte seiner Vorfahren bis zur Einwanderung mit der «Mayflower» nach Amerika zurückverfolgt; nun also wurde der Stammbaum ausgerechnet in der Gegenwart lückenhaft.
Julia wollte einen Ja-Spender, der eingewilligt hatte, dass die aus seinem Samen hervorgegangenen Kinder mit 18 mit ihm Kontakt aufnehmen dürfen.
Im Herbst 1999 sassen sie zu dritt auf dem Sofa und erörterten die Qualitäten der Spender, wobei die Unterscheidung zwischen potenziellem Schwiegersohn und Keimzelle eine abstrakte ist. Den Grosseltern fiel es schon damals – und eigentlich bis heute – schwer, den Gedanken niederzuringen, dass diesem Unbekannten doch etwas entgehe, wenn er ihre Tochter nicht persönlich kennenlerne. Geschweige denn schwängere. Aber gut, da lagen also fünf Dossiers.
Einer litt an Migräne, da waren es nur noch vier. Migräne hat Julia selber, das fehlte gerade noch. Einer war zu dunkel. «Je ähnlicher das Kind der Mutter ist, desto eher bewahrst du es vor Fragen wie: Von wem hast du denn deine schönen schwarzen Locken?» Julia ist eine aschblonde, blauäugige, hellhäutige, 178 Zentimeter grosse, vollschlanke Frau. Zur Sicherheit liess sie ein sogenanntes Foto-Matching machen, bei dem ein Bild von ihr mit jenen der Kandidaten abgeglichen wurde, um den ihr Ähnlichsten zu ermitteln. Sie selbst wollte die Porträts der Männer nicht sehen, «besser nicht», sagt sie, schliesslich gehe es nur um genetisches Material. Nun blieben noch zwei.
Warum nicht die Gelegenheit nutzen, um eigene Defizite zu kompensieren? Mathematik und Sport zum Beispiel sind Julias Schwachpunkte, und einer der Finalisten behauptete, in beidem gut zu sein. Bingo. Die Wahl fiel auf 5010.
Geboren 1970, hellbraune Augen, glattes dunkelblondes Haar, 1,86 Meter gross, 77 Kilogramm schwer, Student der Geschichte auf Lehramt. Vater: Doktor, Professor und Autor. Mutter: Doktorin, Professorin und Autorin. Beide französischer Abstammung. Bruder und Schwestern: allesamt Akademiker. Sämtliche Fragen nach Erbkrankheiten in der Familie hat 5010 mit Nein beantwortet, Kurzsichtigkeit mit Ja – was ihn glaubwürdig mache, findet Julia – und die bizarre Frage «Tragen Sie jockeyartige Unterhosen?» wiederum mit Nein. Jockeyartige Unterhosen, das wusste Julia gar nicht, hemmen angeblich die Spermienbildung. «Ich mag Basketball, Tennis, Karate, Schreiben, Gemeindearbeit, Bücher und diverse Formen intellektueller Aktivität», hatte 5010 an irgendeinem Tag Ende der 1990er Jahre handschriftlich notiert. Er sei ein offener, freundlicher, umgänglicher Mensch. Auf der letzten Seite seines Profils stand: «Ich hoffe, dass ich Männern mit Fortpflanzungsproblemen dienlich sein kann.» Ob es ihm auch in den Sinn gekommen ist, Frauen mit dem gravierenden Fortpflanzungsproblem, keinen Mann zu haben, dienlich zu sein, ist nicht bekannt.

Grafik: efl.
Nüchterne Selbstbefruchtung
Der Samen kostete 170 Dollar pro Gläschen plus Versandkosten. Julia kaufte vier Reagenzgläser, die verpackt in flüssigem Stickstoff und gekühlt auf minus 194 Grad zu ihrem Frauenarzt verfrachtet wurden. Auf eine romantische Selbstbefruchtung bei Kerzenschein und einem Gläschen Wein, wie es unter den SMC auch erörtert wird, hatte sie keine Lust. «Herzlichen Dank», sagt Julia, «nicht mein Fall.» Für sie war es eher eine Art Kariesbehandlung. Zeitnah zu ihrem Eisprung spritzte der Gynäkologe den Samen über eine Kanüle in die Gebärmutter, die Krankenkasse übernahm die Kosten, Julia wurde schwanger. In der gleichen Zeit fand sie einen neuen Job beim «Time Magazine», der sie finanziell so stellte, dass sie sich eine Tagesmutter leisten konnte. Plan B: termingerecht erfüllt. Im August 2000 wurde Amelia geboren.
An Sommerabenden machte Julia mit ihrem Baby vorm Bauch lange Spaziergänge im Central Park. Manchmal, wenn sie Familien beim Picknick beobachtet habe, sei sie traurig geworden, sagt Julia, sie habe das Gefühl gehabt, sie beide seien keine richtige Familie. Aber im Laufe der Zeit habe das aufgehört. So wie auch die Fragen aufgehört hätten. Solange Amelia ein Baby gewesen sei, sei sie oft gefragt worden: «Und wo ist der Papa?» – «Sie hat keinen», hat Julia geantwortet. Oder noch direkter: «Ihr Vater ist ein Samenspender.» – Manchmal habe es einen Moment der Irritation gegeben. Manche sagten: «Oh, das tut mir leid.» Und wieder andere riefen: «Grossartig!» Insbesondere ältere Damen hätten ihr oft gesagt, dass ihnen dieser Weg auch gefallen hätte, wenn das damals schon möglich gewesen wäre.

Amelia war zwei, als sie selbst zum ersten Mal diese Frage stellte: «Wo ist mein Daddy?» – Julia antwortete: «Unsere Familie hat nur eine Mama.» Mit dieser Antwort gab Amelia sich einige Jahre zufrieden, aber Julia wusste, dass die Daddy-Frage immer wieder kommen würde, in immer neuen Farben und Facetten. Julia war von Anfang an für maximale Transparenz, die Wissenschaft gibt ihr recht. Geheimnisse seien immer schambehaftet, sagt sie, und eines sollte Amelia niemals: sich ihrer selbst oder ihrer Mutter schämen.
Sie las Amelia aus einem Bilderbuch vor, das das Donor Conception Network in England für jede nur erdenkliche Familienkonstellation herausgegeben hatte. Darin heisst es: «Es gibt viele verschiedene Arten von Familien. Um ein Baby zu machen, braucht man den Samen von einem Mann und das Ei von einer Frau.» Der Mann «wird nicht Teil unseres Lebens sein, aber es ist gut zu wissen, wie nett und grosszügig er war, denn ohne ihn hätte ich nicht das Glück, dich zu haben». Die Bilder von Samen und Eizelle, dem freundlichen Doktor und der glücklichen Mama sind Amelia so vertraut wie «Rotkäppchen und der Wolf».
Ihre wichtigsten Gesprächspartner in Fragen der Elternschaft fand Julia in den verschiedenen Online-Foren der Single Mothers by Choice. Ob es um Dreimonatskoliken, schlaflose Nächte oder das Abstillen ging, hier gab es zu jeder Tages- und Nachtzeit Rat und Beistand. «Ganz allein geht es nicht», sagt Julia. «Vor allem musst du lernen, um Hilfe zu bitten», was vielen Frauen schwerfalle. Zum Glück habe sie schon immer einen grossen Freundes- und Bekanntenkreis gehabt. Wenn ein Migräneschub sie heimsuchte, konnte sie Amelia zu den Nachbarn schicken. Ihre Eltern lebten vier Autostunden entfernt, aber im Notfall kamen auch sie. Und wochentags hatte sie ihre vietnamesische Nanny. Es seien schöne, anstrengende, vielleicht manchmal etwas einsame Tage gewesen, sagt Julia. Amelia, ihr ganzes Glück.
Schlaflos in Boston
In Boston lag zu dieser Zeit Nacht für Nacht eine Frau wach und grübelte. Anne-Marie, damals 39, Unternehmerin und Consultant für Startups im medizintechnischen Bereich, zermarterte sich das Hirn, ob sie nicht beziehungsfähig sei. Ob sie bisher falsche Prioritäten gesetzt habe – Karriere, Reisen, Unabhängigkeit. Auch sie hatte sich bereits für den Alleingang mithilfe einer Samenspende entschieden, liess sich bei jedem Zyklus erneut Spendersamen inseminieren, doch sie wurde einfach nicht schwanger. Die Angst vor Unfruchtbarkeit liess sie langsam in eine Depression gleiten.
Und immer wieder kamen Zweifel: Ist es dem Kind gegenüber fair, es so in die Welt zu bringen? Wer kümmert sich um mein Kind, wenn mir etwas passiert? Wer wird es so lieben wie ich? Sie hatte zunächst einen anonymen Spender gewählt. «Doch eines Nachts sass ich senkrecht im Bett und fragte mich: Was tust du da? Wenn es doch die Möglichkeit gibt, einen Ja-Spender zu nehmen, ist das ja wohl das Mindeste.» Und so kam Spender 5010 in ihr Leben. Intelligenz, ein gutes Aussehen, Sportlichkeit und ein angenehmes Wesen waren auch ihre Kriterien, ausschlaggebend aber war für sie, dass 5010 französischer Abstammung ist. Genau wie sie selbst. Ein Stück Verbundenheit der Keimzellen, ein Stück Heimat.
Natürlich habe sie sich immer gewünscht, einen Kameraden zu finden, sagt Anne-Marie, dieser Weg sei zweite Wahl. Aus der Not geboren. «Wenn ich 50 geworden wäre und kein Kind gehabt hätte, wäre das für mein Leben die grösste Katastrophe gewesen.» Doch im November 2002 wurde Pierre geboren. Und Anne-Marie zog um nach Princeton, New Jersey, in die Nähe ihrer Eltern.

Ungewollte Kinderlosigkeit, sagen Experten, führt vor allem Frauen oft in eine existenzielle Krise. Zu biblischen Zeiten galt Unfruchtbarkeit als eine der härtesten Strafen, die Gott für Männer und Frauen vorgesehen hatte; in vielen Kulturen ist sie ein Scheidungsgrund. Die eigene Spezies nicht erhalten zu können, rührt an Archaisches und wird auch von unfruchtbaren Männern als Demütigung empfunden. Krankenkassen erkennen ungewollte Kinderlosigkeit bei Paaren als etwas Therapiebedürftiges an und finanzieren die Behandlung zumindest in gewissem Umfang. Alleinstehende Frauen und Lesben hingegen sind davon ausgenommen.
Und immer wieder kamen Zweifel: Ist es dem Kind gegenüber fair, es so in die Welt zu bringen? Wer kümmert sich um mein Kind, wenn mir etwas passiert?
In den USA waren Krankenversicherungen Ende der neunziger Jahre noch Privatangelegenheit, und sowohl Julia als auch Anne-Marie hatten Policen gewählt, die ihren Absichten entgegenkamen. Nach Pierres Geburt allerdings stieg Anne-Maries monatliche Prämie auf 1200 Dollar, was sie zu einem Wechsel veranlasste. Eine Entscheidung, die sie bei Baby Nummer zwei massiv zu spüren bekommen sollte. Überhaupt wird sie 15 Jahre später sagen: «Finanziell hätte ich vielleicht alles besser planen sollen.»
Baby Nummer zwei
Für Julia und auch für Anne-Marie stand ausser Frage, dass ihr Kind ein Geschwisterchen haben sollte, das erschien ihnen nur natürlich. Anne-Marie ist eines von vier Kindern, Julia war mit ihrem jüngeren Bruder aufgewachsen. Zu gross war zudem die Sorge, dass Mutter und Kind in einer Zweierkiste zu sehr aufeinander fixiert sein würden, zu symbiotisch.
In den SMC-Foren sei Baby Nummer zwei ein Thema, über das endlos debattiert werde, sagt Julia. Ob es emotional zu schaffen sei. Und ob es finanziell zu schaffen sei. Und überhaupt. 2003 sagte Julia sich: «Los jetzt!» Sie hatte ja noch drei Gläser von dem kostbaren Gut, das bei ihrem Frauenarzt in der Kühltruhe lag. Denn so viel stand fest: Amelia war so grossartig gelungen. Baby Nummer zwei sollte unbedingt auch von 5010 sein.

Mittlerweile war Julia 39. Bei Amelia hatte sie kein einziges Medikament eingenommen, nun musste sie sich Hormone in die Bauchdecke spritzen, um die Zahl der heranreifenden Eizellen zu steigern, in der Hoffnung, dass eine oder mehrere taugliche darunter sein würden. Trotzdem klappte es nicht – nach zwei vergeblichen Inseminationen und einem IVF-Versuch, also einer künstlichen Befruchtung im Reagenzglas, war ihr Spermienvorrat fruchtlos verbraucht. Und mit Schrecken stellte Julia fest, dass 5010 als Spender «retired» war, im Ruhestand. «Er muss zuletzt 1998 aktiv gewesen sein», sagt sie, und es klingt, als spreche sie von einem erloschenen Vulkan.
Zu ihrem Glück entdeckte Julia auf Donorsiblingregistry.com eine weitere Mutter mit Nachwuchs von 5010 des New England Cryogenic Center. Auf der Website können sich Kinder von Samen- und Eispendern, deren Eltern sowie auch die Spender registrieren. Als sie eines Abends mal wieder in ihrem Appartement in New York am Computer sass, Töchterchen Amelia schlief friedlich im Kinderzimmer, fasste sie sich ein Herz und schickte dieser Frau eine E-Mail mit der höflichen Frage, ob sie eventuell noch Samen von 5010 übrig habe, den sie entbehren könne.
Aus den Häuserschluchten Manhattans gelangte die Nachricht auf die andere Seite des Atlantiks in eine ruhige Nachbarschaft von Jerusalem, wo Zitronenbäume vor den Einfamilienhäusern stehen und es nie richtig kalt wird. Und wo Dvori, eine IT-Spezialistin in der Hightech-Branche, sie eines Morgens las, erschöpft von einer weiteren schlaflosen Nacht mit Zwillingen im Säuglingsalter und einem kleinen Jungen von vier Jahren, alle drei von Samenspender 5010. Sie freute sich über den freundlichen Gruss aus Amerika, stutzte allerdings wegen des Anliegens. Tatsächlich hütete sie noch einen Vorrat von acht Gläschen mit Spermien von 5010.
Empfängnis im Bade
Dvori ist orthodoxe Jüdin. Sie selbst ist eines von sieben Geschwistern, und die Gläschen, die in der Kühlbank lagerten, bargen immerhin die Option auf jene Kinderschar, die sie sich eigentlich unter einer Familie vorstellte. «Im jüdischen Glauben legen wir den Schwerpunkt sehr auf die Kinder; die traditionellen Familienstrukturen sind nicht ganz so wichtig wie im Christentum», sagt Dvori. Unwichtig allerdings sind sie auch nicht. «Für meine Eltern war die Entscheidung schlimm», sagt Dvori.

Zwei Wochen lang gab es viele Tränen, die Brüder wurden geschickt, um Dvori von ihrem Plan abzubringen, alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt, um doch noch einen Ehemann für die Tochter aufzutreiben. Doch Dvori hatte sich entschieden.
Zuvor hatte sie sich gründlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob ihr Vorhaben mit dem jüdischen Gesetz vereinbar sei. Samenspende wurde grundsätzlich gutgeheissen, allerdings nur bei verheirateten Paaren. Sex ausserhalb der Ehe ist ein Tabu. Wie also stand es um ein Kind ohne Sex? Im Talmud entdeckte Dvori eine Passage, die belegte, dass Frauen auch ohne sexuellen Kontakt schwanger werden konnten, zum Beispiel durch «Empfängnis im Bade». Dvoris Rabbiner gab ihr sein Einverständnis – eine Position, die unter den Autoritäten der jüdischen Gemeinde umstritten ist.
Als orthodoxe Jüdin war Dvori gehalten, einen nichtjüdischen, anonymen Spender zu nehmen.
Dvori musste noch eine weitere Hürde nehmen, denn sie wollte unbedingt einen Ja-Spender. Zwar hat in Israel jede Frau ein gesetzlich verankertes Recht auf zwei Kinder – egal ob sie verheiratet ist oder nicht. Die staatliche Krankenkasse bezahlt jede erforderliche Behandlung. «Nach dem Holocaust wollen die Juden so viele Kinder wie möglich», sagt Dvori. Doch die Spender werden vom Arzt ausgesucht und bleiben grundsätzlich anonym, das war Ende der neunziger Jahre noch gesetzlich verankert, heute sind auch Ja-Spender erlaubt. Als orthodoxe Jüdin war sie gehalten, einen nichtjüdischen, anonymen Spender zu nehmen. Zu gross wäre bei einem Juden die Gefahr von Inzest, wenn die Kinder später selber eine Familie gründen wollten. Dvori suchte also einen nichtjüdischen Ja-Spender, der – das war ihr besonders wichtig – keine deutschen Vorfahren hatte.
Sie wusste von den Ja-Spendern in den USA und überzeugte ihren ersten Arzt, von dort Samen zu beschaffen, worauf die Gesundheitsbehörde drohte, ihm die Lizenz zu entziehen. Das konnte Dvori nicht entmutigen. Sie suchte sich einen neuen Arzt, beschaffte sich eine Importlizenz für ihre Ja-Spende, klapperte zu diesem Zweck jede beteiligte Behörde ab, verliess nie den Raum, bevor die nötigen Formulare ausgefüllt waren. Dvori ist eine kleine, fast scheu wirkende Frau, die sehr leise spricht; der Kinderwunsch scheint enorme Kräfte freizusetzen.
Im September 1998 wurde ihr Sohn Avichai geboren, Und als sich acht Tage nach seiner Geburt Freunde und Familie zur Brit Mila, der Beschneidung, versammelten und die Eltern sahen, wie glücklich Dvori war und dass ihre Freunde und Glaubensbrüder von der Synagoge sie keineswegs ablehnten, waren auch sie versöhnt. Zwei Jahre später kamen die Zwillinge auf die Welt: Naama und Bezalel. Ihr kleines Mädchen wurde auf einem Auge blind geboren – vermutlich wegen einer Verletzung während der Fruchtwasseruntersuchung – und musste ständig für Untersuchungen und Operationen ins Krankenhaus.

Nebenbei waren da noch der Vollzeitjob als Programmiererin und der Haushalt. An drei Tagen in der Woche hatte Dvori eine Tagesmutter, an zwei Tagen arbeitete sie zu Hause, auch nachts, wann immer die Kinder schliefen. Jahre später wird sie sagen, dass sie nicht mehr wisse, wie sie diese erste Zeit überstanden habe. Sie hatte Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Trotzdem zögerte sie, als die Anfrage aus Amerika kam, den restlichen Samen freizugeben. Fast ein Jahr überlegte Dvori, bevor sie fünf der acht Gläser per DHL nach New York verschickte. Als Dank und nicht als Bezahlung übernahm Julia die Lagergebühren für Dvoris restlichen Vorrat.
Als die fünf strohhalmdünnen Gläschen des kostbaren Saftes in Manhattan eintrafen, machte Julia sich sofort ans Werk. Die Zeit drängte. Bis 2006 unternahm sie vier weitere IVF-Versuche: Hormonbehandlung mit drei Spritzen täglich, nach zehn bis zwölf Tagen jeweils das Ernten der Eizellen unter Narkose, danach Bettruhe, abwarten, wie sich die Embryonen im Labor entwickelten. Einführen der tauglichen Embryonen in die Gebärmutter, wieder abwarten, ob sie sich einnisteten. Seelischer Absturz, wenn sie es nicht taten. Grosse Freude, wenn sie es taten. Abwarten, ob sie blieben. Dramatischer Absturz, wenn sie wieder abgingen. Aufrappeln, Planung des nächsten Versuchs. Beginn der Hormonbehandlung für den nächsten Zyklus. Und so weiter. Es sei ein Hamsterrad, sagt Julia, eine Tortur. «Nach der zweiten Fehlgeburt war ich mit meiner Kraft am Ende.»
Die Kinder von 5010 – Teil 2: Warum das Schicksal herausfordern?
Anne-Marie bekommt einen zweiten Sohn von einem anderen Spender. Und eine schlimme Diagnose. Julia entschliesst sich zur Adoption. Weitere Halbgeschwister tauchen auf: die Zwillinge von Karen und Lisa, einem lesbischen Paar aus Colorado.Anja Jardine13.7.2018, 05:30 Uhr
Als Amelia in die Vorschule kam, wurde Julia klar, dass sie nie zu Hause sein würde, wenn das Mädchen aus der Schule kam und Hausaufgaben machen musste. Ihrer vietnamesischen Nanny in Manhattan konnte sie diese Aufgabe nicht übertragen. Was nun? Julia schmiedete einen neuen Plan. Sie schlug ihren Eltern vor, gemeinsam ein Haus zu kaufen und aufs Land zu ziehen. Sie würden ihre Enkelin aufwachsen sehen, könnten Julia bei der Betreuung helfen, und im Gegenzug würde Julia sich später um sie kümmern, wenn sie gebrechlich würden.
Sie fanden ein hundert Jahre altes Doppelhaus in Pennington, New Jersey, einer 2500-Seelen-Gemeinde, renovierten es von Grund auf und schlugen einen Durchbruch durch die beiden Haushälften. «Der Wandel im Lebensstil war radikal», sagt Julia. Da sie noch keine Arbeit in New Jersey gefunden hatte, musste sie täglich vier Stunden nach Manhattan pendeln. Aber das Gute war: Anne-Marie und Amelias Halbbruder Pierre wohnten jetzt in der Nähe.
Anne-Marie hatte mittlerweile einen zweiten Sohn bekommen, von einem anderen Spender. Auch sie hätte gern wieder 5010 genommen, aber als sie feststellte, dass er nicht mehr aktiv war, hatte sie nicht lange gefackelt. Ihre Familie war nun vollständig, inklusive Loki, des Labradors. Von aussen unterschied sich ihr Einfamilienhaus im Zentrum von Princeton kein bisschen von jenen der Nachbarn, weiss gestrichen, Korbstühle auf der Veranda, Schaukel im Garten. Die Primarschule war zu Fuss erreichbar, ebenso wie die Mittelschule. Anne-Marie arbeitete als Consultant von zu Hause aus, vermietete ein Zimmer im Souterrain an ausländische Studenten, beschäftigte an zwei, drei Tagen die Woche eine Nanny und brachte die Kinder zu ihren Eltern, wenn sie für einen Termin nach Pennsylvania musste oder nach New York.
Ihr Tag war ein Flickwerk und vor allem Baby Nr. 2 eine Herausforderung, Henri war vom Naturell her sehr viel fordernder und anstrengender als Pierre. Nachts, wenn die Jungs endlich schliefen, arbeitete sie oder räumte auf oder machte die Wäsche. Manchmal vermisse sie es, bestimmte Momente mit jemandem teilen zu können, sie brächten so viel Freude ins Leben. «Schon seltsam», sagte Anne-Marie, «manchmal, wenn ich Pierre laut und melodisch singen höre, weiss ich, das hat er von ihm.»
Immer wieder einmal besuchte Anne-Marie die Website Donorsiblingregistry.com und stellte fest, dass unter der Nummer 5010 tröpfchenweise immer mehr Kinder auftauchten, Pierres Halbgeschwister. Ein Junge in Massachusetts, ein Mädchen in Indiana, ein Junge und Zwillinge in Jerusalem, ein Mädchen in New York, alle paar Monate waren es ein oder zwei mehr. Anne-Marie zögerte eine Zeitlang, Pierre in die Liste einzutragen: «Du weisst ja nicht, welches Tor du da aufmachst», sagt Anne-Marie. Aber irgendwann überwog die Neugier.
Alles, was die Kinder gemeinsam hatten, hatten sie von 5010, was dennoch in der Summe kein Bild ergab. 5010, der ewig Abwesende – in gewisser Hinsicht ist er immer da.
An einem Tag im Juli verabredeten sich Julia und Anne-Marie mit drei fremden Frauen und acht Kindern in New York, verbrachten den Tag miteinander und «fühlten ein ganz spezielles Band». Sie betrachteten die Kinder der anderen mit liebevollem Wohlwollen und staunten über die Ähnlichkeiten: das feine Haar, die schmalen Gesichter – und: «Schau doch nur! Die Ohren!» Alles, was die Kinder gemeinsam hatten, hatten sie von 5010, was dennoch in der Summe kein Bild ergab. 5010, der ewig Abwesende – in gewisser Hinsicht ist er immer da.
Samenspender
Mama – Pierre – Granddad
Als Pierre im Kindergarten ein Bild von Mama, Papa und Kind malen sollte, erklärte Anne-Marie der Kindergärtnerin, dass sie eine Single-Mum-Familie seien, worauf sich die Kindergärtnerin bei ihr entschuldigte. Doch Pierre bestand darauf, einen Vater zu haben. Er zeichnete Mama, Pierre und Granddad.
Je älter die Kinder würden, desto mehr müsse man es ihnen überlassen, wie und ob sie ihre Geschichte erzählen wollten, sagt Julia. In einem Restaurant habe ein Kellner einmal zu Amelia gesagt: «Wo ist denn dein Daddy, Süsse?» Als Amelia antwortete «Ich habe keinen», rief der Kellner laut: «So etwas Furchtbares sagt man nicht! Jeder hat einen Daddy.» Doch solche Grobheiten seien selten. Dennoch gebe es eine Zeit, in der die Kinder das mit dem Spender lieber verschwiegen. Oder damit prahlten. «Ich habe dreissig Geschwister! Vielleicht sogar fünfzig», liess Pierre seine Schulkameraden wissen, als er acht oder neun war. «Kann nicht sein!», riefen die anderen. Und bekamen prompt eine kleine Lektion in Sexualkunde, alles über Samen und Eizelle. Später dann, als er in die Pubertät kam, ging er dazu über, im Abschnitt mit der Samenbank («Meine Mutter ging zu einer Samenbank») das Wort «Samen» zu vernuscheln, so dass nur das Wort «Bank» übrig blieb, was der ganzen Geschichte wohl einen leichten Wall-Street-Appeal verliehen hat, wenn auch kryptisch. Aber so genau wollten die anderen es zum Glück auch nicht wissen.
Als Amelia etwa sechs gewesen sei, sagt Julia, habe sie realisiert, dass sie ihr einmal erklären müsse, wie Babys eigentlich normalerweise entstehen. Sie tat es, und Amelia antwortete angeekelt: «Iiiih. Das kann ja wohl nicht wahr sein.»
Die Zwillinge von Karen und Lisa
Was andere Leute denken könnten oder dass sie ihre Kinder gar hänseln würden – das sei vor der Geburt der Zwillinge ihre grösste Sorge gewesen, sagt Karen. Und Lisa sagt: «Heute wäre das für uns ein grossartiges Problem.» Ihre Zwillinge kamen krank zur Welt. Aidan hatte einen Herzfehler, musste sich mit dreieinhalb Monaten einer lebensgefährlichen Operation unterziehen, bei der er eine Hirnblutung erlitt, die nachhaltige Schäden verursacht hat. Luca entwickelte sich zunächst normal, bis er im Alter von zwei Jahren plötzlich sein Besteck nicht mehr halten konnte, keine Fragen mehr stellte, sich dramatisch zurückentwickelte. Mit dreieinhalb wurde bei ihm eine schwere Form von Autismus diagnostiziert – eine Diagnose, die bei Aidan im Alter von fünf Jahren auch noch hinzukam.

«Bei Aidan waren wir von Anfang an drauf eingestellt, dass er sein Leben lang Hilfe brauchen würde», sagt Karen, «bei Luca war es ein Schock. Wir hatten schon so viel durchgemacht und dachten, das kann doch nicht wahr sein.» Aidan muss künstlich ernährt werden, beide Kinder besuchen zahlreiche Therapien, um Feinmotorik, Sprache und Bewegung zu erlernen.
Lisa und Karen zogen bewusst nach Boulder, Colorado, als sie eine Familie gründeten. «Hier ist es so liberal, wie es in den USA nur sein kann», sagt Lisa. Hier konnte auch sie, die keine biologische Verbindung zu den Jungs hat, als Mutter in die Geburtsurkunden eintragen werden. Stünde Lisa nicht im Geburtsregister, würde ihre Krankenkasse – und sie hat als Juristin in der Raumfahrtindustrie die bessere – die Kosten für die Kinder nicht übernehmen. «Nicht auszudenken, was dann wäre», sagt Karen.
Aidan und Luca wurden auf eine ganze Reihe genetischer Marker untersucht, aber es gibt keine Hinweise, dass ihre Krankheiten vererbt sind. «Es würde auch keinen Unterschied machen», sagt Karen, «die Frage, ob wir den falschen Spender ausgesucht haben oder ob ich als Mutter schuld bin, führt nirgendwo hin.»

Yoko nach Hause geholt
«Warum das Schicksal herausfordern?», sagte Julia 2007, «mit Amelia habe ich schliesslich das grosse Los gezogen.» Doch der Wunsch nach einem zweiten Kind nagte noch immer an ihr, auch wenn sie die Hoffnung auf ein weiteres biologisches Kind aufgegeben hatte. Noch blieb die Adoption, aber sie zögerte. China, Guatemala, Vietnam, Äthiopien, Kasachstan. Oder doch eine Adoption in den USA? Im Inland entschieden die leiblichen Eltern, wem sie ihr Kind überlassen wollten; Adoptionen liefen entweder über Agenturen oder – bei einer unabhängigen Adoption – direkt über Anwälte vor einem Gericht. Auf der Beerdigung eines Cousins in Ohio erfuhr Julia zufällig, dass ein Mann in der Nachbarschaft seine Tochter zur Adoption freigeben wolle. Und plötzlich ging alles sehr schnell.
Der Mann war bereits über sechzig, nicht mehr gesund und traute auch der Kindsmutter nicht zu, das kleine Mädchen grosszuziehen. Die Mutter war ehemals drogenabhängig und psychisch sehr labil. Das Jugendamt hatte ihr bereits das Sorgerecht für andere Kinder entzogen. Julia traf sich mit dem Vater, der eine offene Adoption anstrebte, so dass die Eltern mit dem Kind Kontakt halten konnten. Das war auch in Julias Sinn. Im Januar 2008 brachte er das sieben Monate alte Mädchen probeweise für einen Tag zu Julias Cousine, wo Julia es sich anschauen konnte. Julia – absolut nicht nah am Wasser gebaut – kommen noch heute die Tränen, wenn sie davon spricht. Es tobte ein Schneesturm, der Mann klingelte und gab dieses kleine Bündel mit pechschwarzem Haar ab, kein Lätzchen, keine Wäsche zum Wechseln, keine Babynahrung, nur zwei Windeln. Das Mädchen war kränklich und schrie den ganzen Tag, trotzdem war die Entscheidung im Herzen schon gefallen. Das war im Januar, im Mai hat Julias es zu seinem Geburtstag besucht, im Oktober 2008 hat sie Yoko «nach Hause geholt».0
Doch der Tag der Adoption sei wie eine Beerdigung gewesen, sagt Julia, «sehr, sehr traurig». Das Problem war die Mutter. Sie wollte ihre Tochter nicht hergeben, obwohl sie eigentlich einsah, dass sie bei Julia viel besser aufgehoben sein würde. Doch als alle im Gericht versammelt waren, die leiblichen Eltern, Julia und die zwei Anwälte (je einer für die zwei beteiligten Bundesstaaten Ohio und New Jersey), und die Mutter unterschreiben sollte, brach sie mittendrin zusammen. «Es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie auch ihren Nachnamen schreiben konnte», sagt Julia. Im Vergleich zur Samenspende sei eine Adoption emotional unendlich vielschichtiger. Wie vielschichtig, das habe sie damals nicht einmal geahnt.
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