Populationsgenetik – wie viele Kinder darf ein Spender zeugen?
Das anonyme Spenden stellte die Mediziner vor ein Problem: Unbeabsichtigte Ehen zwischen Halbgeschwistern oder deren Nachkommen. Weil das Inselspital die Paare aufforderte, ihrem Kind die Insemination zu verschweigen, war und ist es möglich, dass sich ein Spenderkind unwissentlich mit einem Halbgeschwister fortpflanzt.
Für den Populationsgenetiker steht nicht der Einzelfall im Vordergrund. Ihn interessiert eine Frage: Wie viele Kinder eines Spenders dürfen „im Umlauf“ sein, ohne dass der Genpool unserer Gesellschaft durch inzestuöse Verbindungen geschädigt wird.
Dr. Hans Moser, Universitätsspital Bern, nahm sich diesen übergeordneten Genpool-Fragen an. Er kam zum Schluss, dass das Inzest-Risiko (unwissentliche Ehen zwischen Halbgeschwistern oder deren Nachkommen) extrem tief sei, selbst wenn ein Spender mehr als 10 Kinder zeuge. Selbst bei 50 Kindern desselben Spenders sei die zu erwartende Inzestrate tiefer als bei jeder Referenzpopulation („Even if we assumed the mean number of AID offspring per donor to be 50, the expected event of a half-sib marriage is still less than 1 in 5 years. This is much lower than the consanguinity or even the incest rates in any poulation.“). Diese Aussage stand unter der Annahme, dass die durch AID gezeugten Kinder gleichmässig in der Bevölkerung „verteilt“ seien. Das Problem, soweit es die Schweiz betreffe, werde von zwei Faktoren beeinflusst: Das Zeitfenster für einen Spender zur Spende sei nicht länger als 1 Jahr, wobei dieser durchschnittlich 3-4 Mal pro Monat spende. Zudem stamme ein signifikanter Anteil von Frauen, welche um AID ersuchen, aus dem Ausland. Angesichts des limitierten Zeitfensters eines Spenders und der geographischen Verteilung der befruchteten Frauen, „haben wir kein Problem, was die Anzahl der Kinder betrifft, welche von einem Spender gezeugt werden“. Und weiter: „Dies erlaubt uns, wenn nötig, die Samen verschiedener Spender bei derselben Behandlung einzusetzen, um damit die Anonymität des Verfahrens sicherzustellen“.
Das Inselspital handelte offensichtlich nicht strikt nach den Empfehlungen des Genetikers. Es ist nachgewiesen, dass einzelne Spender während mehr als einem Jahr zum Einsatz kamen.
Die Populationsmathematik des Dr. Moser lässt einen Aspekt ausser Acht: Wenn, wie von Moser empfohlen, die Samen verschiedener Spender vermischt und bei derselben Behandlung eingesetzt werden, ist eine verlässliche Aussage über die von einem Spender am Inselspital gezeugten Kinder nicht möglich. Theoretisch wäre eine Begrenzung möglich, wenn der Spender von Vornherein nur für eine beschränkte Anzahl Behandlungen eingesetzt würde. Dass eine derartige „Limite“ existiert hätte, ist nicht bekannt. Zudem ist es nicht unmöglich, dass derselbe Spender auch an einem oder mehreren der anderen 4 Zentren spendete. Dass die Zentren untereinander Spenderinformationen ausgetauscht hätten, um eine „Mehrfachspende“ zu erkennen, ist nicht ersichtlich.
Den Urhebern dieser Seite ist ein Fall bekannt, in welchem durch DNA-Tests bislang vier Halbgeschwister gefunden worden sind. In der Annahme, dass solche Tests in unserer Gesellschaft noch nicht allzu stark verbreitet sind (konservative Annahme: 2%), erscheint es durchaus möglich, dass einzelne Spender Dutzende Male eingesetzt worden sein könnten.
Wie erwähnt: Die Populationsgenetik betrachtet keine Einzelfälle. Es mag gut sein, dass 50 Halbgeschwister, die voneinander nichts wissen, den gesellschaftlichen Genpool nicht ernsthaft bedrohen. Auf Ebene des Einzelfalles lag der Ball bei den Gynäkologen. Sie hätten sich z.B. die Frage stellen können, ob es klug ist, x Halbgeschwister zu erzeugen. Man muss nicht Mediziner sein, um sich die Frage zu stellen: Will man 50 Halbgeschwister haben? Es finden sich keine Aufsätze etwa zu den psychischen Konsequenzen – wohl aus einfachem Grund: Man nahm an, dies werde gar nie erkannt.
Quellen:
Population Genetics and AID, Hans Moser, Genetic Counseling Service, University Department of Pediatrics, Berne, Switzerland, 1979
Present Status of AID an Sperm Banks in Switzerland; Campana, Gigon et al., 1979